Das Projekt bin ich

Portrait der Leipziger Fotografikerin Edith Tar


Ediths Projektliste hintereinandergelesen könnte man als Gedicht begreifen oder als den gedanklichen Wurf einer Frau, die schon immer weit über ihren Horizont hinausgeblickt hat: „Die Spur des Anderen“, der „Revolutionstisch“, „MEMENTO VIVERE“, „EX VOTO“, „Ich - Fisch“, „Ich will bei lebendigem Leibe alles sehen“, „Imago Dei“, „Der Muschelaltar“, „Flügelschlagen“, „Büchsenlicht“, „Kriegsspiel oder die weiße Fahne“, „Licht - Bilder für Merlin“, „L’autore monde“, „Der Gral - ein mentaler Trafo“, „Kein Erwachen gleicht dem Erwachen in Israel“. Ausstellungen, Bücher, Installationen, soziale Aktionen. Seit 1987 arbeitet sie mit dem Dichter Radjo Monk zusammen, derzeit am Projekt „Der Gral - Wurzeln Europas“.

Gerade dort, wo die Künste nicht blühten, wo man das Braune Gold in großen Klumpen förderte, eben etwas Handfestes, gab es einige Leute, die sich mit feinstofflichen Dingen, mit Gedanken, Ideen, mit Phantastischem befaßten. Als wären sie um einen Ausgleich bemüht, einen inneren, oder als versuchten sie, der Schöpfung erneut zu begegnen - in Mythen, im Gesang für die geschundene Erde, in Bildern.

Dennoch, auch bei Edith findet sich das Grobstoffliche: Zwei Kanonenrohre vom T 55 als Säulen für den „Muschelaltar“ verschweißt, Stahlrahmen um ihre Fotos, mit Plasmabrenner eingebrannte Zitate aus Texten von Monk:


MIT DEM MORGEN WAR / DAS MEER UNSER BLAUES BLUT


Oder eine Fläche von 4500 Quadratmetern auf der Tagebaufolgelandschaft bei Leipzig, darauf ein Sack Ringelblumen ausgesät, monatelang gejätet, damit von der B 2 im Vorüberfahren zu lesen ist: „MEMENTO VIVERE“ Bedenke, daß du leben wirst*.

„Ich arbeite immer mit Menschen. Das hat etwas mit dem Lebendigen zu tun. Meine künstlerische Arbeit macht mein Leben intensiver“, sagt Edith Tar und auf die Frage, wie sie mit Monk zusammenarbeitet, erwidert sie: „Ich arbeite nicht mit ihm zusammen, ich bin ein Teil von ihm. Was immer ich suche, das sagt er mir am Frühstückstisch oder beim Gießen. Man kann schwer trennen, was von ihm ist und von mir.“ Dabei bezieht sie sich auf den geistigen Hintergrund.

Ediths Freundin Lilli besorgte ihr aus einem Fundus Kleider, rief an und fragte: „Hast du die Modelle schon fotografiert?“ - „Ich hab’s erst mal selbst anprobiert“ - „Aber ich dachte, das ist für ein Projekt“. - „Ja, stimmt. Das Projekt bin ich.“

In ihrer „Schatzruhe“ befinden sich die Requisiten für ihre Modelle: Gürtel, Schleier, goldene Kugeln, Fächer, Leuchtgirlanden, Muscheln. „Dichterisch wohne der Mensch“, meint sie und so kann es sein, daß die Dachspitze einer Gartenlaube mit „1000 Tüllschleiern verschiedener Farben, in rosa und himmelblau, dazu Glitzerbänder, nicht so kostbar, eher ostmäßig daneben“, zum Atelier wird.


„Noch einmal treiben Legionäre

die Liebesgöttin durch die Gerste

und sie sichelt Stunde um Stunde

den Wiedergeborenen ein Lager aus Stroh.“


Auf dem mit diesem Satz unterschriebenen Bild folgt in einer Abraumlandschaft mit zwei verdorrten Birken eine Frau im weißen Kleid mit Kapuze einem weißen Band, das verwickelt um Steine dem Betrachter entgegenrollt. Der Tagebau ist ein Motiv, das bei ihr immer wieder auftaucht. So fotografierte sie dort auch mit Stahlhelm und Uniform bekleidete Sechzehnjährige für ihre Ausstellung „Kriegsspiel oder die weiße Fahne“.

Einmal 1988, als es mitternachts läutete und der Messerwerfer, ein befreundeter Artist, vorbeikam, um sie zu einer Proberunde mit dem eben erstandenen Lada mitzunehmen, warf sie sich einen Mantel über und sie fuhren Turmweg - Völkerschlachtdenkmal - Gasometer. „Hier kannst du fotografieren“, schlug er vor. Er nahm sie auf seine Schultern. So ist das Plakat für ihre Ausstellung „Ich - Fisch“ entstanden.

Was zufällig aus dem Leben gegriffen oder in spontanen Aktionen geknipst scheint, hat bei Edith Tar ihre geistige Vorarbeit. Dies ist die Beschäftigung mit weltanschaulichen Fragen, die sie ihren Arbeiten unterlegt und die man dort immer entdecken kann. Aber die Fotosession selbst gestaltet sie so locker als möglich, ohne starre Vorgaben. Hier kann die Phantasie walten, hier läßt sie ihrer Spontaneität freien Lauf.

An ihre Diplomarbeit „Vergehen und Werden“ an der „Hochschule für Wandern und Russisch“, wie sie die Leipziger HGB während der Studienzeit betitelte, als ihr Dozent ihr „richtig Arbeit machen wollte“, erinnert sie sich: „Ich bin in den Tagebau gefahren, habe Kuchen, Braunen und Kaffee eingepackt, wir haben getrunken und gegessen. Die Bergleute erwarteten eine Tussi aus der Stadt, die sich nicht schmutzig machen will. Wir waren alle gut drauf und sie haben mich in einem Baggerlöffel hochgehoben und aus den verschiedenen Perspektiven habe ich die Fotos gemacht. Der Bagger hieß übrigens der Rote Ochse.“

So einfach, wie es im Nachhinein erzählt wird, ist es vorher nie. Edith berichtete an anderer Stelle, wie sie Lampenfieber vor einer Session hat, ihrerseits manchmal am liebsten absagen würde und alle ihre Energie darauf konzentriert, auf den „magischen Moment des Auslösens“ hinzuarbeiten, den Moment, an dem ihr Modell seiner Natur, dem Ideal, am nächsten ist, das offenbart, was ihm an Anlagen gegeben wurde. Nach den Sessions ist sie erschöpft, ausgepumpt.

Zur Buchvorstellung des Fototextbandes mit Monk „Die Spur des Anderen“ hatte sie alle eingeladen, die auf den Fotos abgebildet waren. So auch das Pumaweibchen Sissi, den Adler Wotan und zwei Waschbären. Nur zwei Kohlenmänner, auf einem LKW hockend, hatte sie zufällig fotografiert. Sie gab ihrem Kohlenlieferanten einige Abzüge und sagte: „Zeig das mal rum und wenn du sie gefunden hast, kannst du mit deinen Kumpels zu mir kommen. Dann gibt’s Gehacktesbrötchen und Bier wie immer, wenn ihr Kohlen bringt“. So kamen dann doch alle zusammen, denn „es ist wie ein Tannenbaum ohne Weihnachten, wenn sie nicht mitkämen“, sagt Edith.

So wäre es auch gewesen, wenn der „Revolutionstisch“, im Herbst ’89 ein Treffpunkt nach den Leipziger Montagsdemonstrationen in der „Märrie“ (Tanzgaststätte Marienbrunn) nur als Stilleben nach Glasgow gereist wäre. Als ihn Edith Tar danach als soziale Plastik zum Kunstobjekt erhoben hatte, rief Hillery Barthled bei Tar an und fragte nach dem Objekt. „Da gehören aber 30 Leute dazu!“ „Können Sie nicht 6 davon aussuchen?“ „Ich bin doch nicht jemand, der jetzt denjenigen belohnen kann, der am meisten demonstriert oder getrunken hat“, erwiderte Edith. So reisten alle und auch die Getränke am Tisch waren Kunstobjekte...

Als im November ’89 ihre Ausstellung „Imago Dei“ im Foyer der Volkshochschule Saarbrücken geplant war, brachte sie neben ihren Fotos auch Zeitdokumente, Aufrufe, Flugblätter und Fotos von den Demonstrationen mit und hing sie aus. Mitveranstalter war die nach der Haushälterin von Karl Marx benannte Buchhandlung „Lenchen Demuth“, von Lafontaine in der Zeit des Kalten Krieges initiiert, um über das Medium Kunst Austausch zu ermöglichen. Jemand riß über Nacht die Ausstellung nieder. Edith Tar stürmte daraufhin das Büro Lafontaines, der dann die Ausstellung in der Volkshochschule besuchte. Dort handelte sie mit ihm aus: Ein Foto gegen einen Flugblattdrucker für die Leipziger Bürgerbewegung.

Tar, 1944 in Böhmen im Wald geboren, hat slawisches und französisches Blut in den Adern. Aufgewachsen ist sie in Lucka/Thüringen im „Goldenen Stern“. Sie ist mit Monk oft unterwegs zu Ausstellungen oder Recherchen für ihr Gralsprojekt: in Irland, Großbritannien, Frankreich, Ungarn, Italien, Schottland und Israel. „Wer zu Hause Schutz sucht, den verschlingt das eingemachte Bild“, unterschrieb Monk eines ihrer Fotos. Wenn sie nicht in Hotels übernachten, dann bei Freunden wie jener Pariserin, die kein Gästebett hatte, einen Schrank öffnete, den Inhalt auf dem Teppich verteilte, eine Decke darüberlegte, und fragte: C’ est bon?

Etwas Sinnstiftendes möchte sie tun, aber witzig soll es sein. Nicht immer, wenn sie eine Idee hat, läßt es sich leicht realisieren. „Was du nicht tust, geschieht dir gegen den Uhrzeigersinn“*, antwortet sie sich selbst darauf. Und ergänzt: „Ich bin fanatisch nach Erkenntnis. Ich fahre tausend Kilometer, um etwas zu verstehen“. So beschäftigt sie sich auch mit Pflanzenkunde, studierte Gesang und Sprachgestaltung. Für zwei Jahre ging sie an den Starnberger See vom „Osten“ in den „Westen“, um zu begreifen, was den Unterschied ausmacht.

Wie intensiv der Austausch der Künstler Tar und Monk ist, kann man daran sehen, daß der Dichter jetzt sein bildnerisches Werk in Frankreich ausstellte und die Fotografikerin mit am Buch über Israel schreibt. „Der Gral ist die geistige Suche. Wie das Kreuz die Koordinaten von Zeit und Raum darstellt - in der Mitte ist die Gegenwart. Dort hing Jesus Christus. Dort ist das absolute Jetzt, ohne Versicherungen, und diese Gegenwart gebiert Zukunft. Der Gral ist eine Wortmarke, die genau den Punkt bezeichnet, an dem das Dasein eine existentielle Dichte erreicht, deren Intensität schwer zu halten ist. Die Suche nach dem Gral ist eine Art Übung, sich dieser Intensität zu nähern.“ So graben sie nach keinem Kelch, der irgendwo versteckt ist, sondern finden auf ihrem Weg Menschen und Geschichten. Dabei entstehen Bilder und Gedichte.


Dieter Kalka


Anmerkungen

*1) in Abwandlung vom geläufigen „Memento Mori“

*2) Titel ihrer Israel-Ausstellung


 

 

 

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