MÄDER-SCHULE

So ist das mit Umbenennungen. Mein Vater sagte sein Leben lang Jungsschule dazu, ich sage seit jeher Mäderschule. Sie hieß inzwischen aber Rosa-Luxemburg-Schule und nun schon wieder anders. Man sollte Umbenennungen gesetzlich vorschreiben und zwar alle neun Jahre, das lenkt die Menschen von der Politik ab und sie haben damit zuu tun, sich zu orientieren. Dann können BürgermeisterInnen endlich schalten und walten...

Unser Klassenzimmer war im Keller, rechte hintere Ecke, zwei oder drei Fenster und der ölige Fußboden: wenn man hinfiel, war die Hose nicht mehr zu reinigen. Im Schulhof mußten wir im Kreis gehen, wie das in Gefängnissen üblich ist, aber so gab es weniger Prügeleien. Und es gab noch die alten Vorkriegsbänke mit den Klappsitzen und die Methoden war auch noch aus Vorkriegszeiten - bis auf den Rohrstock, aber Nachsitzen wurde noch praktiziert. Selbst im "Schoschalißmuß" ausgebildete Lehrerinnen ließen die Hände hinterm Rücken verschränken. So saß man still und gerade und wenn es sonst kein Bildungsziel gab, war doch eins erreicht.

Anbei eine Erinnerung in Prosa.

 

ERINNERUNG AN EINE MATHEMATIKSTUNDE


Es war in der sechsten Klasse oder in der fünften. Uns unterrichtete eine Dame mit angegrautem Haar und sie hatte dennoch etwas mädchenhaftes. Verheiratet war sie nie und ihr fehlte der rechte Arm. Weswegen hat sie uns nicht erzählt. Jeder dieser Generation trug solche Geschichten mit sich herum: Fehlende Augen, verbeulte Stirnen, falsch zusammengewachsene Füße, eine ganze Armee von Holzbeinen, ellenbogenlange Narben oder Sirenenirrsinn.

Die alte P. ging so geschickt mit ihrem Stummel um, wenn sie an der Tafel mit Dreieck und Lineal hantierte, daß wir sie bewunderten. Sie war rührend und nur, wenn sie schlechte Laune hatte, durfte keiner einen Mucks von sich geben.

Wir spürten das und an diesen Tagen verliefen die Stunden mit einer hingebungsvollen Liebe zur Mathematik. Diese Ehrfurcht spürte ich nur in diesen Schulstunden - später weder in den Hörsälen noch in der Kirche, nicht einmal zu Weihnachten oder zu Ostern.

Gerade in einer dieser Stunden machte der spacke Seiferich Spirentien. Ihm juckte das Fell. Vielleicht hatte er Spulwürmer und konnte nicht still sitzen. Oder seine Unterhose war eine Woche lang nicht gewaschen. Sie schnappte sich ihn. Zerrte ihn am Schlawittchen aus den Vorkriegsbänken. Er baumelte an ihr herum und sie hielt ihn am Kragen, drückte sein Kinn nach oben. Dann schüttelte sie ihn und schob ihn jeweils einen halben Schritt den Gang zur Wand, knuffte ihn wieder, und nochmal ging es einen viertel Meter vorwärts und sie stierte ihm ins Gesicht. Die ganze Klasse schaute sie an und auch er konnte den Blick nicht von ihr lassen, denn sah er weg, brüllte sie: „Sieh mich an!“ Am Zimmerende angekommen dachte ich, nun ist’s überstanden. Es rumpelte, sein Hinterkopf plauzte auf, es krachte nochmal und ging zurück in die andere Richtung und wieder hin und her und erst dann warf sie ihn auf die Schulbank wie ein ausgeleiertes Drachenviereck, ein Bündel in sich zusammengesackter Wäsche und da lag Seiferich die ganze Stunde auf dem geölten Holz und gab keinen Mucks mehr von sich.

Über diese Methode konnte man gespaltener Meinung sein. Niemand regte sich auf. Nicht die Eltern. Nicht die Kollegen. Nicht der Klassenlehrer. Auch nicht der Direktor. Nicht einmal Seiferich sprach jemals wieder davon. Dabei wurde das geringste Vergehen an Schülern mit Entlassung geahndet.

Ich fand ihre Art zumindest ehrlicher als Einträge, als die Hinterhältigkeit der Beurteilungen, als pädagogische und staatliche Maßnahmen. Einträge in Schülerakten schleppte man von Jahr zu Jahr, von Klassenleiter zu Klassenleiter, von Schule zu Schule mit sich. Auf der Penne wurde schon vorher per Buschfunk verbreitet, daß, wer lange Haare trüge, regelmäßig zu Leistungskontrollen beordert würde. Später, fiel man auf, passierten seltsame Dinge, die alle miteinander wenig zu tun hatten. Visas wurden verweigert, Urlaubsplätze abgelehnt, Briefe kamen nicht an, Leute tauchten auf und schnüffelten.

Die P. hatte geklärt: Sie ist die Lehrerin und Seiferich der Schüler. Am nächsten Tag war alles vergessen.

Ein oder zwei Jahre später stand ich zur Null-Stunde auf, um bei ihr Englisch zu lernen. Wer sprach damals schon Englisch? Sie prüfte Vokabeln und mir fiel das Wort für „Steine“ nicht ein.

Denken Sie an diese Gruppe. Jüngst spielten sie in Berlin und die Fans haben das ganze Stadion verwüstet.“

Wir konnten kein Westfernsehen empfangen und ich war ahnungslos.

Wer von Ihnen ist Stones-Fan“, fragte sie und ergänzte: „Ich würde ja, wenn ich in Ihrem Alter wäre, für Mirelle Mathieu schwärmen. Diese berauschenden Walzer, dieser Charme!“

Natürlich war das nichts für mich. Auch die anderen feixten.

Sie war glücklich, von Mirelle zu erzählen und tanzte dabei den Gang zur Zimmerwand entlang und summte eine französische Melodie.

 

Aus "Wszystko to tylko teatr", Poznan, 1999

 

 

 

 

 

 


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