Über den Umgang mit den Dichtern Friedrich Hölderlin und Wolfgang Hilbig in ihren Geburtsorten

Brache Nr. 9

Auf der unscheinbaren Wiese stand es: Hilbigs Geburtshaus

 

Artikel für LVZ / OVZ, Oktober 2007


Am 8.10. fand in der Meuselwitzer Orangerie ein Abend unter dem Titel „Friedrich Hölderlin - Wolfgang Hilbig. Zwei Dichter aus zwei Jahrhunderten begegnen sich“ statt. Gymnasiasten rezitierten Texte beider Dichter. Eva Ehrenfeld, Hölderlinbeauftragte der Partnerstadt Lauffen am Neckar, hat sie in Beziehung gesetzt und einfühlsam erklärt.

Aus Verletzung entsteht Schönheit: Baum auf der "Insel"

Meuselwitz – dort wurde 1670 Kohle gefunden, später industriell abgebaut. Das zog den Maschinenbau nach, der Ort blühte auf und ein gewisser Reichtum floß auch in die hinterste Ecke. Man war wer.

Torso einer hochindustrialisierten Epoche

Nach dem Krieg verschwand das Schloß, 1988 das älteste Gebäude der Stadt, nach der Wende wurden die Brikett- und Maschinenfabriken zu Brachen. Was hat Meuselwitz jetzt zu bieten? Historisch: einen Galgenberg, wo überdurchschnittlich viele Ketzer hingerichtet wurden und ein KZ-Außenlager. Einige Baracken stehen noch, in manchen wohnen Leute. Man hat sich eingerichtet in der Vergangenheit.

Das Rohr zwischen Rusendorfer Tagebau und Ententeich. Noch reichlich durchflossen.

Als ich 1982 meine Meuselwitzer Lieder uraufführte, sagte Hilbig, mit dem ich befreundet war, zu mir: „Für mich gibt es höchstens eine Stadt M.“. Nun hat M. nicht nur einen Lyriker, es sind derer fünfe: Tom Pohlmann, Lutz Nitzsche-Kornel, Mike Paulenz (von Corvus Corax) und ich. Alle jünger als Hilbig. Das ist doch was, könnte man sagen. In Anbetracht des Abrisses. Was fürs Image. Jetzt hat der Fischer-Verlag Hilbigs Nachlaß. Er könnte aber auch vor Ort liegen. Forscher würde das locken. Man könnte im Geburtshaus einen Raum einrichten, wäre es nicht 2005 abgerissen worden. Die Bürgermeisterin hätte das verhindern können. Ob die beratungsresistente Frau, die in ihrer Rede von Franz Führmann und Erwin-Strittmacher sprach, die richtigen Entscheidungen Hilbig betreffend fällt, ist zweifelhaft. Erwin Strittmatter könnte man ja kennen. Franz Fühmann, Hilbigs Förderer, traf ich einmal - in Meuselwitz. Bei Hilbig. Helgard Rost vom Leipziger Literaturbüro hat den Begriff vom „Meuselwitzer Dichtergarten“ geprägt. Nur sind diese Gewächse dort herausgerissen und vornehmlich in Leipzig wieder eingepflanzt worden.

Blick vom Hilbighaus (derzeit Wiese) auf die Hochfrequenzwerkstättenm bzw. was davon noch steht.


In Lauffen ist ein Klassiker geboren – Friedrich Hölderlin, die Familie zog weg, als er 4 war. Eva Ehrenfeld beschrieb seine Sicht als den „Adlerblick“. Hilbigs Sicht ist die der Moderne.

Es klingt wie Schwarz-Weiß-Malerei, wenn man das kulturelle Treiben der beiden etwa gleich großen Städte vergleicht: in der Hölderlinstadt 10 bildende Künstler, eine Klezmerband, eine Pianistin, ein Opernsänger (der aus Leipzig stammt), ein ungarischer Marimbaspieler, eine Theatergruppe (die u.a. Christoph Hein inszeniert), eine Schriftstellerin. Dazu ein Cembalobauer und eine Orgelfabrik. Dabei hatte sich bis zur Wahl des Bürgermeisters Klaus-Peter Waldenberger 1999 kulturell nicht viel getan. Aber dieser Mann hat ein offenes Ohr, fördert Projekte.

Romantik in Meuselwitz. Romantik in Hilbigs Texten. Nicht umsonst der Bezug zu Hölderlin...


Warum vier Dichter? Wozu dieser wortgewandte Reichtum? Nach so viel Zerstörung - in Meuselwitz fielen relativ gesehen mehr Bomben als in Dresden, das Verschwinden des geistigen Zentrums der Familie von Seckendorff hinterließ ein Vakuum, und nach den Braunkohlenarben in der Landschaft begann die Erschaffung der Welt neu: im Wort. Am Anfang war das Wort. Aber das Wort wurde vertrieben.

Efeu Efeu Efeu. Hilbig beschrieb, was darunter liegt: in den Erdschichten, welche die Bergleute ausgruben. In den Seelenschichten unter der Verdrängungsgrenze...

Hilbig, der nie einen Hörsaal von innen gesehen hatte, begann seine Karriere als Boxer. Er sattelte um, schrieb. Ein Kämpfer ist er geblieben und manche, die im Ort verächtlich über ihn reden, sollten daran denken, daß es Leute wie Hilbig waren, die ihre heutige Freiheit möglich machten. Man hat ihn 30 Jahre ignoriert. Erst später, inzwischen berühmt, wurde er eingeladen. Dem folgte der Versuch, ihm eine Ehrenmedaille zu verleihen, eher peinlich. Im Nachhinein wollte man sie ihm wieder aberkennen, weil er sie nicht abgeholt hatte. Jetzt gab man sie seiner Mutter.

Die wüsten Gärten, die Hilbig beschrieb, gibt es nicht mehr. Wer die Landschaften entdecken will zwischen den aufgeforsteten Wäldern, muß lange suchen - oder er kennt sich aus. Ein Ort zwischen Gestern und Heute. Das Vergangene - vergangen. Aber es lebt weiter. Damit überragt es die Gegenwart und blüht fort. Nur weil aus den einst so stolzen Fabriken Brachflächen wurden, ist das Problem nicht gelöst. Früher stolze Bergleute, heute Hartz-4-Empfänger. Einige wettern über Hilbig: der war nur zu faul zu arbeiten. Denhammsedochnichtumsonsteingelocht... Und nicht nur Arbeiter, aber auf jeden Fall Leute, die hier nie rauskamen.

 

Man hat den Eindruck, daß der Autor sich auch nach seinem Ableben endlich entschuldigen möge, daß er keine Jubelgesänge anstimmte über den Ort, der ihn und seinen besten Freund Jürgen Schreiber ins Gefängnis brachte - das ist nie aufgearbeitet worden, auch Hilbigs U-Haft nicht. Wegen angeblichen Verbrennens einer DDR-Fahne und nicht, wie überall zu lesen ist, wegen des Buches bei S. Fischer. Das war später. Wer waren die falschen Zeugen? Da gibt es viel Licht ins Dunkel zu bringen.

Meuselwitz ist nur ein Symbol. Es hätte Borna heißen können oder Bitterfeld oder Mumselbross. Die Menschen haben ein Jahrhundert von der Kohle gelebt, sich vermehrt, einige sind reich geworden, die meisten waren ehrbare Bergleute und Maschinenbauer und ihre Kinder oder Enkel verlassen jetzt die Gegend, als bekäme man hier die Räude. Jetzt wird rückgebaut. Jetzt wird abgehaun. Jetzt beginnen die Schrumpfungen. Und: man schlägt den Göttern die Hände ab. Die haben ja alles verbockt!

Ach, wäre es traumhaft, zögen Lauffener Verhältnisse in Thüringens Hinterzimmer ein: Die namenlose Grundschule, ein Bauhaus-Entwurf, hieße Hilbig-Schule. Würde nix kosten. In Schwaben gehört Hilbig vielerorts zum Schulstoff. In Thüringen? Was vergeuden wir unsere Ressourcen und jammern, daß es nicht aufwärts geht?

Aber solange in Meuselwitz ein Fußballstadion steht und die Mannschaft gut in Form ist, bleibt die Welt in Ordnung. Nichts gegen Sport: Hilbig war Boxer. Wilhelm Bartsch nannte ihn einen Heimatdichter. Er hat seine Heimat genau beschrieben.

Die Gymnasiasten haben sich an diesem Abend beiden Dichtern feinfühlig genähert. Es ist ein Anfang. Und eine Bibliothekarin hatte den Mut, diese Veranstaltung auch gegen Vorbehalte zu organisieren. Der Saal war prall gefüllt.


Dieter Kalka


 

 

September 2007

Aufgrund dieses Artikels wurde "durfte" ich nicht zur Lesung für Wolfgang Hilbig in der Orangerie in Meuselwitz im August 2008 teilnehmen.

NadasagtdocheinermalasberdiePressefreiheithierimOrt!

 

 

 


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