LUBLIN - DAS TOR ZUM OSTEN

EIN ESSAY

Lublin - ein Dorf mit sechs Hochschulen, so nannte es mein Gastgeber Herbert Ulrich, der vor 16 Jahren aus der DDR nach Polen ausgereist ist.

Ein Drittel der Einwohner sind Studenten. Sie prägen das Bilder der Stadt, die eine bewegte Geschichte aufweisen kann: nacheinander gehörte sie zu Rußland, Preußen und Österreich.

Im Kloster, welches die Österreicher noch als Pferdestall benutzten, wurde 1918 die Katholische Universität Lublin, abgekürzt KUL, gegründet, die einzige nichtstaatliche Hochschule des späteren Ostblocks, Ausbildungsort nicht nur für die polnische Priesterschaft (auch der jetzige Stellvertreter Gottes hatte bis zu seiner höchsten Berufung eine berufene Stellung als Professor an der KUL), sondern auch für Dichter, Philosophen und Solidarnosc-Politiker.

Nach den Studentenunruhen 1968 wurde wegen Rädelsführern aus den Reihen der Philosophiestudenten das Fach erst einmal landesweit abgeschafft, was einen Strom junger Philosophen nach Lublin auslöste, denn hier wurde das Fach weiter gelehrt.

Bis 1940 hatte Lublin den Ruf einer Hauptstadt der im Osten lebenden Juden. 40000 wohnten hier, das war die Hälfte von Lublins Bevölkerung.

Aleksander Rozenfeld (Aussprache: Rosenfeld), den ich hier kennenlernte, schrieb:

Durch Zufall existiere ich, denn wenn eines septemberabends `39 mein Vater nicht aus dem belagerten Warschau über den Bug geflohen wäre, nach Osten, nicht gerettet worden wäre, hätte er mich nicht gezeugt.

Geboren wurde Rozenfeld hundert Kilometer östlich von Moskau. Nach dem Krieg kehrten seine Eltern nach Polen zurück. In Lublin ist er eine stadtbekannte Erscheinung. Hier lebte und wirkte er über zehn Jahre lang und prägte sich vielen ins Gedächtnis ein, sodaß, taucht er heute überraschend in der Stadt auf, am nächsten Tag in der Zeitung zu lesen ist: Rozenfeld wurde gesehen. Zu einer Lesung zu Studenten geladen, so wurde mir erzählt, kam er zwei Stunden nach Lesebeginn, entschuldigte sich, daß er heute wegen eines Katers, den man ihm ansehen konnte, keine Literatur bieten könne. Dafür erzählte er zwei Stunden lang Witze. Jüdische.

Heute schreibt er Feuilletons für alle möglichen Zeitungen und versammelt monatlich polnische Intellektuelle zu einer dreistündigen Rundfunksendung über Kunst und Politik.

Polen, du bist mir ein ständiger Zahnschmerz. Dieses Gedicht begann er 1984 in Jerusalem, wohin er nach Ausrufung des Kriegsrechts in Polen auswanderte. Wegfahren aus Polen, um mein Polentum zu finden, zurückkehren nach Polen, um mein Judentum zu suchen, meditierte er später.

Denn in Israel gefiel es dem Weltgewandten nicht besser als in Polen. Sein Vater, den er aufsuchte, schickte ihn zuerst zum Arbeitsamt, wo er eine Stelle als Straßenkehrer erhielt. Ein findiger Journalist brachte ihn auf die Titelseite unter der Überschrift: Flüchtling vor Kommunismus muß bei uns Straße kehren.

Rozenfeld wurde abgeworben und zwar von einer Universität, deren Rektor versprach, daß er nichts weiter zu tun habe, als monatlich sein Gehalt abzuheben.

Von Israel verschlug es ihn nach Italien, wo er ein Stipendium vom Vatikan erhielt. Nach Deutschland reiste er, um auf seine Rückkehr ins noch von Jaruzelski regierte Polen zu warten.

Ein polnischer Witz: Treffen sich zwei Interkontinentalflugzeuge in der Luft. Das eine fliegt von Ost nach West, das andere von West nach Ost.

Frage: In welchem sitzt Rozenfeld?

Antwort: In beiden.

Denn hier sind meine Wurzeln und dort ist die Krone des Baumes.

Lublin ist eine Durchgangszone. Ein Korridor. Kulturen prallen aufeinander. Russen, Weißrussen, Moldawier, Ukrainer und Litauer. Dazu die Nachwirkungen jüdischer Geschichten und Mystik, die Erinnerung an Schornsteine vor der Stadt...

In der Stadt, die nicht ein Drittel so groß ist wie Leipzig, gibt es zwei gewichtige Literaturzeitschriften. Eine davon heißt Grenzland (Kresy).

Händler schleppen sich mit Koffern und Reisetaschen in Zügen hierher, andere kommen auf Motorrädern mit Boxermotoren, an den Seiten baumeln mit Stricken festgezurrte Rucksäcke. Sie verkaufen Rasierapparate, Skatkarten mit kyrillischen Buchstaben, Weihrauchgefäße und Silberrubel mit Leninkopf.

Polen ist für sie schon fast Amerika. Hier ist Wohlstand. Für die Grenzgänger übersteigen Tagesgewinne in Polen heimatliche Monatslöhne.

Lublin nimmt sie auf, niemand scheint sich an ihnen zu stören. Die Stadt ruht in sich, auf ihren dreimeterdicken Mauern am Marktplatz.

1515 wurde hier eine Talmudschule begründet, deren Absolventen auch Rabbiner von Jerusalem oder New York wurden. 1936 wurde die Schule geschlossen.

Nicht umsonst wählte der polnische Amerikaner Isaak B. Singer für seinen Nobelpreisroman Lublin als Schauplatz, nicht von ungefähr beginnt der Theologe Martin Buber seine chassidischen Erzählungen mit einem Kapitel über den Seher von Lublin.

Rozenfeld inspirierte die Atmosphäre der Stadt zu folgenden Zeilen:

Oh, nachts bin ich groß:
ich spreche mit Geistern
ich feiere seltsame Zeremonien
in verschiedensten Liturgien
Tempelräuber bin ich und Almosengeber - oh
nachts lebe ich wirklich

Alltag: Überfüllte O-Busse, auf Gehwegen Polski-Fiats, darin Frauen, die Zeitungen, Busscheine oder Lose verkaufen. Auf der Post ein Dutzend verschiedener Briefmakren mit dem Portrait Karel Wojtilas. Die Wechselkurse des im Inland frei konvertierbaren Zlotys schwanken geringfügig. Schwarzhändler vor den Banken haben kaum Kundschaft. Ihre Zeit ist vorbei. Vom Markt aus geht ein Weg steil abschüssig in Richtung Schloß, linkerhand auf dem Busplatz ist Wochenmarkt. Ukrainische Eier, verölte Zündkerzen, Vorgartenmöhren. Man schlägt sich durchs Leben. Links des Platzes vorm Schloß floh einst der gewarnte Solidarnosz-Chef Lublins übers kupferne Dach zum Bischofssitz. Die Polizei kam über die Haustreppe zu spät.

Von der Brücke aus hat man einen Blick aufs ehemalige Ghetto von Lublin: kein Gebäude, welches noch steht.

Kassetten-Raubpressungen von Jimi Hendrix bis zu den Toten Hosen, für den Binnenmarkt bestimmt, kann man in jedem offiziellen Musikgeschäft erwerben. Etwas Anarchie - aus Tradition.

Die Stadt fängt. Sie scheint labyrinthisch angelegt zu sein. Immer tiefer vergrabe ich mich in verlorene Geheimnisse, die am Wegrand warten. Dazu Cafés und die ehrwürdige Bibliothek der KUL, deren Lesesaal ein milder Holzduft durchströmt. Neben Grimms Wörterbuch Literaturgeschichten: Ausgabe Ost neben Ausgabe West. Mit einem Chemieprofessor, der ein deutsches Buch liest, komme ich ins Gespräch: Ich bin germanophil, erklärt er mir und meint damit, so glaube ich verstanden zu haben, daß er Deutsche mag.

Von meinem zweiwöchigen Aufenthalt wollte ich sieben Tage nach Tallinn und Helsinki. Mit einem Schnapshändler, der regelmäßig dorthin pendelt, hätte ich mitfahren können. Die Wartezeiten an den Grenzen: ein bis vier Tage. Platzkarten in diese Richtung muß man einen Monat vorher bestellen. Abenteuerlich wird es in der Gegenrichtung: Von einem Mann berichtete das polnische TV, daß er ein halbes Jahr auf einem russischen Bahnhof vorm Platzkartenschalter übernachtete, ehe er eine erhielt.

Als ich losfuhr, blühten in Leipzig die Krokusse. Hier liegt Schnee. Herberts Kinder bauen eine Schneefrau und bewerfen uns. Die Zeit hier ist mild und mächtig. Sie verlangt wenig, hauptsächlich Geduld und Zeit.

Sonntag. Uni-Kirche. Die fünfte Messe am Tag und immer noch überfüllt. Über Lautsprecher wird die Predigt ins Freie übertragen. Leute stehn im Schnee und beten.

Neben der Predigt schreiben viele polnische Priester Gedichte. Waclaw Oszajca war während des Kriegsrechts Studentenpfarrer an der KUL, politisch engagiert und schrieb neben religiösen Versen auch Liebesgedichte:

die schlafende prostituierte
die beine breit auseinander
eine hand auf dem schoßhügel
der kleine finger der anderen hand im munde
ist sie wieder das kleine mädchen
das seilspringt

Zwei Versionen über seinen Weggang werden erzählt.

Die Behörden boten dem Lubliner Bischof Pylak, der während meines Aufenthaltes zum Erzbischof avancierte, einen Handel an: Er solle den aufmüpfigen und unbequemen Priester in die Provinz schicken, dafür würde er die begehrte Baugenehmigung für eine neue Kirche erhalten.

Oszajca erfuhr davon und ging - freiwillig: ins Jesuitenkloster.

In der zweiten Version wird berichtet, daß er wegen der Veröffentlichung seiner erotischen Gedichte versetzt wurde.

Polen ist ein herunterpurzelndes Gedicht, schrieb Rozenfeld. Intellektuelle, die etwas auf sich halten, schreiben hier Gedichte: Bibliothekare, Studenten, Priester, Polonisten, Professoren.

Lublin, so wurde in Lublin behauptet, sei das Zentrum der polnischen Nachwuchslyriker.

Ich fragte nach Auflagenhöhen. Sie liegen, selbst bei unbekannten Autoren, über dem, was renomierte Verlage wie S. Fischer an Lyrik publizieren. Und der Absatz, vor allem während des Kriegsrechts, funktionierte ohne große Werbeaktionen.

Grzegorz Linkowski, heute Kritiker und Schauspieler einer Off-Theatergruppe, gab während des Kriegsrechts mehrere Untergrundzeitschriften heraus. Hergestellt wurden sie von Druckern, die an den Projekten mitarbeiteten, nach der Arbeitszeit im Betrieb.

Trotz sieben Hausdurchsuchungen gab Linkowski mit dem späteren Arbeitsminister unter Macowiezki, Jacek Kuron, das Informationsbulletin der Solidarnosz heraus, wo jedes Unrecht staatlicherseits aufgelistet war. Widerstand von innen. Zu der Liste ähnlicher Veröffentlichungen gehört auch ein vierbändiges Liederbuch, in dem unter anderem auch Streiklieder abgedruckt sind.

Krzysztof Paczuski beschreibt in seinem Gedicht Polonaise mit einer Rose in der Kehle: Wie wir einst getanzt haben im Rhythmus unserer Herzen/ den Nationalen Tanz, der in den Augen erstorben ist.

Für dieses Gedicht erhielt er einen Lyrikpreis, nur mit der Veröffentlichung dauerte es, denn der Nationale Tanz ist verstummt, aber es ist ja noch die Sense übriggeblieben.

Paczuski kann man täglich im Café des Unia-Hotels antreffen. Personenbeschreibung: unrasiert, klein, mager, Kettenraucher. Der Dichter bewegt sich beim Sitzen kaum. Er ist blickscheu.

Das Hotel wurde in den 70-iger Jahren als neues Mensa- und Internatsgebäude gleich neben der KUL gebaut. Kurz vor der Fertigstellung wurde es beschlagnahmt.

Die KUL, die seit Bestehen ohne jegliche Zuschüsse auskam, andererseits nie Steuern zahlen mußte, sparte sich den Zehnten an den Staat natürlich auch unter den Regierungen der PKP. Der war diese freie Schule unbequem. Sie gründete daneben ein Konkurrenzunternehmen: Die Universität Marie Curie Sklodowska.

Das konnte aber den Zulauf an die KUL nicht bremsen. Gierek wollte dem Rektor sogar finanziell unter die Arme greifen. Dieser wußte aber, wieviel die Freiheit kostet - und lehnte ab. Wegen Steuerschulden wurden dann einige Gebäude in Staatseigentum überführt.

Paczuski hält im Unia-Hotel, das eigentlich zur Uni gehört, Hof. Er, Dichter der strengen Form, Sonettschreiber, empfängt die jungen Poeten der Stadt, gibt Ratschläge in Sachen Versmaß und Reim. Lehrstuhlinhaber im Caféhaus , witzelte die Journalistin Ewa Czerwinska.

Warum nicht? Beneidenswert für ein Gemeinwesen, in dem Dicht-Kunst in dieser Art tradiert ist und weitergegeben wird.

Die Lubliner Dichterszene verglich man immer wieder mit Prag oder Wien der zwanziger Jahre. Die Lubliner Caféhausliterarten. Eine Zeitverschiebung? Eine Enklave? Die Wiederholung eines kulturhistorischen Phänomens?

Abends in einer Kellerkneipe. Die Betreiber kehrten erst kürzlich von einem zweijährigen Aufenthalt aus Großbritannien zurück. Am Tisch eine Friseuse:

Ihr müßt doch in Deutschland leben wie im Paradies!

Arbeitslosigkeit, Depression, Stasiakten...

Erklärungen hätte ich mir sparen können. Die Vitalität der Polen, an deren Lebendigkeit ich teilhaben konnte, saß vor mir in Persona dieser Friseuse. Und ich glaubte in manchen Momenten begriffen zu haben, daß sie ihre Lebensgier, wenn sie gefährlich zu werden droht, mit einem sonntäglichen Kirchgang beschränken.

Als ich nach Leipzig zurückkehrte, war es das, was mir am meisten fehlte. Um mich Leute, die nichts hatten, es sei denn Probleme.

Diese Differenz in der Charakterstruktur scheint mir auch der tiefere Grund für alte und neue Mißverständnisse zwischen beiden Nationen zu sein.

Die Teile- und Herrschemeister, Honecker und Jaruzelski, wußten sich dies sehr wohl zunutze zu machen. Zwischen DDR und Polen benötigten sie keine zweite Mauer. Um den Arbeitern in der DDR die polnische Streiklust auszureden, genügte es, diese als arbeitsfaul zu diskriminieren. Und des Generals Zeremoniemeister der Propaganda dirigierten mit allabendlichen Kriegsfilmen die allgemeine Unzufriedenheit über die Grenze nach Deutschland (Ost) und trafen immer wieder in eine tiefe polnische Wunde.

Die Mauer, eben noch zwischen Deutschland und Deutschland, hat sich verschoben, um etwa tausend Kilometer. Durchlässig ist sie geworden wie eine Zellmembran. Verkehrsadern setzen natürliche Grenzen. Zwischen Europa/West und Rußland die Pufferzone Polen. Lublin, von beiden erobert und regiert, hatte beide ertragen. Jetzt könnte es verbinden.

Russische Geschichten schwappen ins polnische Land. Wasyl Nosa, ein Dichter, Ukrainer. Ich traf ihn in der Redaktion der Zeitschrift Akcent. Als ich ihm die Hand gab, ahnte ich noch nicht, welche Geschichte der Händedruck offenbaren wird. Dominik Opolski, Lyrikredakteur, erzählte auf Englisch, daß Wasyl gerade dabei ist, sein Afghanisches Tagebuch zu veröffentlichen. Wasyl bestätigte auf Russisch: Ich war zweieinhalb Jahre Fallschirmjäger dort unten.

Er wiederum ist Vermittler und arbeitet als freier Mitarbeiter bei der Kiewer Literaturzeitschrift BCECBIT.

In Ostdeutschland, eingekeilt zwischen westlicher und östlicher Lebensart, dachte ich, von diesen Zwiespälten zerrissen zu werden. Nein. Ich habe mich korrigiert. Westlich habe ich gelebt, mit Einschränkungen. Den Osten kann ich verstehen.

Leipzig, so behauptet man, sei ein Klein-Paris.

Polen ist für die Russen schon fast Amerika..

April 1992

Dieter Kalka

Ohne die unzähligen Gespräche und Gedichte, die mir mein Gastgeber Herbert Ulrich übersetzte, hätte ich diesen Text nicht schreiben können.

Die Nachdichtung von die prostituierte ist von ihm.