Und sie bewegt sich doch!



In Leipzig hatte sich eine Einladung nach Dorweiler verirrt, über den Schriftstellerverband landete sie über nicht ganz wachsame Hände im literarischen Untergrund: bei mir.

Ja, die gab es ja, das hatte ich gelesen, in unserer Dichterboheme im Turm1, gleich gegenüber dem Musentempel2 mit Blick auf die Gleise hinterm Hauptbahnhof, wo die Züge Richtung Moskau und Paris abfuhren – ohne uns. Ich machte mir ein Bild von dieser Welt, das war schwankend und brüchig, und irgendwann begann ich zu zweifeln, ob das wirklich alles existiere, oder nur der Alptraum von einigen Bonzen war, die uns den Teufel Kapitalismus an die Wand malen wollten. So war es mit der Waldeck. Ich las über die Festivals, hatte ein recht farbiges Bild davon, von diesen Menschenmassen – wohl wie heute in Rudolstadt, von dieser Spontaneität. Und ich hatte dieses Bild irgendwo abgespeichert im Archiv und daran fraßen die Motten und Mäuse und andere Zweifel. Es war ein inneres Bild: ein Bild vom Aufbruch, von Gleichklang des Außen und Innen und was sonst noch die Seele eint. Da war es also wieder, stand auf einer Einladung. Sie existierte also doch, die Welt hinterm Vorhang, sie hat sich immer gedreht wie wir uns drehten, nicht einmal schneller. Oder haben wir sie eingeholt – auf der Straße, nicht mal im Laufschritt, eher gemächlich, skandierend, auf dem Leipziger Ring?

Telefone? Verbindungen gab’s, nach dem dreißigsten Versuch an der Wählscheibe. Natürlich schrieb ich, dass ich komme. Es war ein Brief – der kostete 35 Ostpfennige und dauerte über ‘ne Woche. Adressiert an Irm. Ich fuhr mit Katharina, meiner damaligen Lebensabschnitts­bevollmächtigten,3 und der Schaffner verwies mich in Fulda des Zuges.

„Wieso?“ – „Entweder Sie verlassen den Zug, oder das wird teuer.“

Ich begann zu schwitzen, hatte ich doch laut Fahrplan über Mainz einen durchgängigen Zug und D-Zug-Zuschlag dazu. Ich suchte den Herrn des Bundesbahnzuges, erwischte ihn, als der Zug einfuhr in Fulda und sprach ihn an. Er war ungehalten:

„Sie wollten doch nach Gießen!“ – „Ich fahre nach Koblenz.“ – „Sie fahren nach Gießen!“ – „Ich habe ein Billett nach Koblenz.“ – „Zeigen Sie her!“ – „Sie haben es doch schon angesehn und gelocht.“

Er wurde nervös. Der Zug hielt schon. Er hätte ihn abpfeifen oder andere Erledigungen tätigen müssen. Er rupfte das Billett auseinander und sagte streng:

„Sie fahren nach Koblenz! Sitzen bleiben.“

Und er hatte Recht. Leute aus der Ostzone schickt man erst mal nach Gießen.

Ich musste nicht nachzahlen. Obwohl ich aus der Ostzone kam.

In Koblenz riefen wir Irm an und steckten dafür drei theure Westgroschen ins Telefongrab. Irm kam von irgendwo, was wir nicht kannten, und ich vertrat mir eine Stunde lang die Beine. An einem Kleinwagen heftete ein Zettel: Zu verkaufen. 50 DM. Getriebe kaputt. Ersatzgetriebe vorhanden.

Ich hatte noch nie ein Auto besessen, nicht mal eine Rennpappe4, für die hätte ich zehntausend Ostmärker berappen müssen – gebraucht. Für 50 Westmark, die ich einstecken hatte, hätte ich als Personenkraftwagenbesitzer zurückfahren können. Getriebe habe ich gewexelt – bei der Armee: das eines G 5, eines stattlichen Lastkraftwagens. Ein Getriebewechselchen für ein Autolein: höchstens drei Stunden Arbeit.

Fünfmal schlich ich um den Mini herum, dann kam Katharina. Irm war da. Sie freute sich, alles war unkompliziert, wir saßen in einem Kleinwagen, etwa wie der für 50 Westmark, nur mit gängigem Getriebe. Wir fuhren mit 120 über die Hunsrückhöhenstraße, eine Westversion des Rennsteiges in Thüringen. Kamen an auf einem Gelände, das mit Wald umgeben war und dann passierte etwas, das bis heute in mein Leben hineinreicht. Nicht nur, dass wir in einer Art Katharsis aufeinander prallten – Leute aus dem Osten, regimehörig und regimekritisch; es begann etwas, das ich heute zu den positivsten Ereignissen der Wende zähle. Ich lernte hier ad hoc Freunde kennen: molo, Gisela, Kai, Wilfried (der beste Koch auf dem Gelände!) und den unvergleichlichen Jacky5, die „Berliner Hütte“ als Schlupfwinkel deutsch-griechischer Seelen. Die Bouzouki hing zwar nicht als Galionsfigur über der Tür, aber sie hing daneben. Ich aß das erste Mal vegetarisch und überfraß mich dreimal am Tage. Sah das erste Mal Vater Rhein und Mutter Mosel. Hörte das erste Mal ein Dutzend deutsche Dialekte gleichzeitig. Nippelte Bio-Wein dazu. Aber das Größte: hier gab’s vegetarische Leberwurst. Hørbi brachte sie mit und bot sie feil, irgendwie hatte seine Frau Karin einen Bioladen mit Produkten, die keine Halbwertzeit besaßen.

Es war diese gedrungene Hütte, wo die Lieder nach Fernweh gesungen wurden. Ein Feuerchen prasselte im Kamin, und der Weinfluss versiegte einfach nicht. Ich staunte über die tiefliegenden Frauenstimmen, sowas wie ein Manta, der überm Boden schleift. Dunja und Babusch, und die Männerstimmen von Gerry und Jacky fielen gar nicht ins Gewicht, auch nicht die von Ali, nur Gerrys Bouzouki klimperte ein paar Oktaven drüber dazu. Von fern jaulten die Wölfe – oder waren‘s Lenas Hunde? Wir trafen dort fröhliche Menschen, die offen waren für unsere Ost-Erfahrungen mit Eingemauertsein und Gleichmacherei und die dennoch mehr links als mittig lagen. Mit Katharina hatte ich damals wohl meine beste Zeit, und hier fühlte ich mich angekommen – in einer mir fremden, aber innerlich sehr bekannten Welt.

Ich weiß, dass es anderen anders ging, und in dieser Zeit erzählten wir, zurückgekehrt von unseren Ausflügen über den geschmolzenen eisernen Vorhang, unsere Abentheuer. Manche, die zu ihrem Onkel fuhren, der sie seit ihrer Kindheit jedes Weihnachten mit Westschokolade terrorisiert hatte, mussten sich dankbar geben, das Gejammer des Unzufriedenen anhören und dazu schweigen.

Was war so anders, so normal auf der Waldeck? Es war, als würde unsere Dichter-Boheme der Endsiebziger und Anfangachtziger wieder aufleben. Als hätte es hier ein Pendant gegeben.

Alles war da und alles war möglich. Hier habe ich Theo Pinkus, den uralten Schweizer Buchhändler kennen gelernt und er riet mir, in Leipzig eine Filiale von 2001 zu eröffnen: „Als Dichter verdienst du doch nichts.“ Ich eröffnete nicht und er behielt Recht. Wenn ich mal einen Moment unschlüssig vorm Säulenhaus rumstand, wurden mir Amalie und Theo Pinkus anvertraut, die ich dann auf Spaziergängen zu hüten hatte, und wenn sie sich stritten, sprachen sie Schwyzerdütsch. Hier lernte ich Walter Janka kennen, der von sich in der dritten Person sprach. Es gab einen angegrauten Philosophen aus Ungarn, vor Jahrzehnten abgehaun und nie wieder dort gewesen. Ich erzählte ihm von seiner Heimat. Hier lernte ich Josef Haverkamp kennen. Und seine Gedichte: „ KRÄHEN// am abend/ sammeln sie/ die nacht// wenn sie später/ auf strommasten sitzen/ rat halten/ und ihr krähen schreit schon// dann verschließe/ die türen/ fliege hinüber/ und / laß erzählen/ vom heißen/ russischen sommer1“. Den russischen Winter hatte ich grad hinter mir.

Es gab Musikanten, einstige Kollegen von Peter Rohland, die traf ich hier, auch seine Schwester. Sie sagte mir, ich hätte etwas von seiner Energie. Ute Sticker schenkte mir das Vierfachalbum von Peter – und bis heute habe ich einen gut gehenden Plattenteller. Hier lernte ich Moßmann kennen, dessen Konzert mit Biermann ich ein Jahrzehnt vorher von Band hörte. Natürlich hatte ich einige seiner Brassens-Nachdichtungen gelesen. Uns ist im Osten vieles nicht entgangen – nur waren wir nicht selbst dabei.

Und es gab Zeitschleifen, sowas wie zehn Jahre später zu Kais Fünfzigstem. Jemand erzählte, dass in Surwold die deutschrussischen Kinder Wegezoll verlangen, wenn die Einheimischen über die Straße wolln. Entschuldigt bitte, dass ich gelacht habe, herzhaft gelacht. Nicht aus Schadenfreude, nein: der Osten war nun unwiderruflich auch bei euch angekommen.

Die Indianer in den USA haben zwei Jahrhunderte gebraucht, nur um annähernd die sie umgebenden sozialen Verhältnisse zu verstehen. Ich habe mindestens zehn Jahre gebraucht, um einigermaßen zu begreifen, worum es in dieser mir fremden Gesellschaft überhaupt geht. Obwohl ich als Freischaffender glaubte, Marktmechanismen begriffen zu haben. Der Markt war einfach ein anderer. Nicht der vom Warschauer Pakt.

Mir fällt es schwer, mich auf die Waldeck zu konzentrieren, auch auf die Zeit der ersten Begegnung. Hier konzentriert sich viel, auch in der kurzen Zeit, wo ich mich zugehörig fühle, ohne Mitglied zu sein. Das ist auch etwas, das ich sehr schätze, denn zu DDR-Zeiten war ich überall Mitglied, ohne wirklich dazuzugehören.

Dazu gehört auch ein winziges Stück Zusammenarbeit, das auch mein Leben bereichert, unter anderem die Idee, zur Feier der 150 Jahre deutsche Bürgerliche Revolution etwas von unserem winzigen Revolutionspotential dorthin zu exportieren, wo es nötig ist: nach Weißrussland, der letzten Diktatur in Europa – und das Anfang des 21. Jahrhunderts. Ich bin mir sicher, dass wir Mut gemacht haben, wo es nötig ist, und ein wenig informiert haben in einer informationsüberladenen Gesellschaft über die Vergessenen in einem gar nicht so weit entferntem Land.

So viele Waldecker fahren im Sommer nach Griechenland. Manche fuhren mit ihrem VW-Bus bis nach Indien. Ich habe auf der Waldeck Neugierige kennengelernt, aber wenige, die sich nach Osten verirrten. Vielleicht war unsere Gesellschaft wirklich so abschreckend, dass da keiner hinwollte. Nicht einmal Linke. Nun ja, einiges ist anders geworden. An der polnischen Ostsee haben Agnieszka und ich einen Hektar Wiese. Produkte – direkt vom Erzeuger. So was wie Bio, weil dort keiner Geld für Düngemittel hat. Milch von der Kuh dort, die auf der Wiese da grast. Ostseestrand fast für einen allein. Keine Quallen! Das Wasser halb so salzig wie in Rostock. Der Wodka6 besser als der von Gorbatschow. So weit ist das nicht. Von Leipzig zur Waldeck, das ist nur wenig kürzer als von Leipzig nach Gardna.

Ostern 90 war das deutsch-deutsche Dichtertreffen auf der Waldeck. Die Dokumentation dazu hieß „Zwischen Idylle und Detonation“. Kai moderierte es, damals, 1990, und Klaus Koch moderierte auch. Ich kannte Klaus7 von der mb Moritzbastei und von Martin Morgener8; der hatte den Text für das wunderbare Marie-Lied geschrieben, das Krawczyk sang. Jeder hatte seine Geschichte mit der Wende zu bewältigen. Klaus hatte wohl einiges im Zentralrat der FDJ verzapft und konnte niemandem mehr in die Augen schauen. Ich weiß noch, wie er mir das erzählte und mir dabei in die Augen sah. Das erste Mal – wieder.

Zuerst die aufsteigende Euphorie auf der einen Seite und die Angst vor den Verlusten auf der anderen. Etwas getan zu haben für den Fortgang der Zivilisation. Dabei gewesen zu sein bei einer richtigen Revolution. Die alle hundert Jahre passiert.

Danach kam die Wirklichkeit einer völlig fremden Sozialisation. Wir hatten nichts einzubringen. Nicht einmal unsere Seelen. Der Verlust von Status, Freunden, Frauen, Bekannten, Jobs... Jeder Halt wurde zur schiefen Bahn.

Wir begannen, uns zu verstehen in unserer Verschiedenartigkeit. Die Systemkritischen konnten die Scheinidylle der anderen mit ihren Lobhudeleien nicht ertragen und neideten die Privilegien, die jene unverdient bekamen. Während sie sangen: Wir hamm den Kanal noch immer nicht voll,9 bekannten andere Farbe: Es reicht! Während jene unabänderlich das Revolutionslied derer anstimmten, die uns unterdrückten, begann die Revolution auf dem Leipziger Ring.

Die andere Seite hatte gut verdrängt. Das ist immerhin ein Anpassungsprozeß, der uns Menschen überlebensfähig gemacht hat. Genau das wurde durch uns Böhse Buhben immer wieder unterbrochen. Wir erinnerten an etwas.

Deswegen schwingt die Sehnsucht der Lieder, die in der Berliner Hütte erklangen, noch in mir wider. Das Fernweh nach Welt. Und weniger die Details unserer Diskussionen. Ich weiß nur, mit welcher Geduld Helga zuhörte und Elisa zuhörte und welchen Humor Günter Gall hatte. Hier habe ich molo und Gisela als tolerante und warmherzige Menschen kennen gelernt. Während wir Ostler uns gegenseitig in Schach hielten, tauschte ich mit den anderen Adressen und Gegenstände. Kai öffnete einen Koffer mit Büchern und meinte: nimm dir eins raus. Ich schloss die Augen und griff zu. In der Hand hielt ich das Große Straßenmusikantenbuch. Die Platte von Günter mit seinen Düwelskermes borge ich heute ab und zu noch aus.10

Wir zwei „Lager“ aus dem Osten lehnten uns gegenseitig ab, missverstanden uns automatisch, beschimpften uns als Schutz vor dem, was dahinter liegt: wir waren zwei Seiten einer Medaille und das begriff ich das erste Mal, so ein bisschen, auf der Waldeck.

Das ist viel, und das hat Kommendes ermöglicht.



Dieter Kalka Drei 10einviertel Jahr danach





1 Josef Haverkamp/ Kai Engelke: „Wölfe malen immer blau“, Waldecker Drucke 1990

1 In meiner Story „Zuviel Pathos“ habe ich das beschrieben. In der Anthologie „Das Ende der Nibelungen“, Faber & Faber, 96. Über diese Dichter-Boheme, wo sich Bernd Igel, Thomas Böhme, Wolfgang Hilbig, Adolf Endler, Heinz Czechowsky, Steffen Birnbaum und andere trafen, existieren über 3.000 Seiten Stasiberichte von ca. 25 Spitzeln – aber keiner aus unserem Freundeskreis hatte sich dafür hergegeben. In der DDR-Aufarbeitung ist es systematisch übersehen worden, dass es auch menschlich intakte Beziehungen gab – es passt wohl nicht ins Bild! - im Gegensatz zu der karriereorientierten Szene vom Prenzlauer Berg, wo fast jeder des anderen Spitzel war.

2 Haus der Heiteren Muse, jetzt abgerissen.

3 Der Abschnittsbevollmächtigte war der zuständige Bulle im Wohnbezirk und Katharina entpuppte sich dann `97 als IM, als ich meine Akte einsah. „Geleistetes“: 50 Seiten Berichte über mich in 2 Jahren.

4 Ausdruck für Trabbi. Man sagte auch vornehm „Carton de Blamage“.

5 Gründer der KPW: Kommunistische Plattform Waldeck. Bester Tubaspieler, seitdem Rabindranath Tagore die Waldeck besuchte.

6 Werbeblock hervorragender polnische Wodkasorten: Pan Tadeusz, Polonez, Zubrówka (mit Büffelgrashalm).

7 Jetzt Verleger von Buschfunk, damals Kulturfunktionär in der Moritzbastei, dem größten Studentenklub der Uni Leipzig. Den gibt’s jetzt noch: als GmbH.

8 Hat sich lange als Theaterchef in Gera gehalten.

9 Abschiedskonzert von Karls Enkel mit Wenzel.

10 Die Namen der vom Autor genannten Waldecker sind (in der Reihenfolge der Nennung): Irm Cipa, Klaus Peter Möller (molo), Gisela Möller-Pantleon, Kai Engelke, Wilfried Otto, Jürgen Jacobi-van Beek (Jacky), Herbert Dauben (Hørbie), Karin Adam-Dauben, Ulrike zur Mühlen (Dunja), Barbara van Beek (Babusch), Gerhard Schneider (Gerry), Hans-Josef Kuhlmann (Ali), Josef Haverkamp, Ute Hagenguth (vormals Ute Sticker), Helga Sveyda-Scholten, Elisa Kooiker, Günter Gall. - Die Redaktion.

 

 

 

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