DIE BRODYER SYNAGOGE LEIPZIG KEILSTRASSE 4

Mein alter Schulfreund Volker hatte die beiden Zimmer als Absolventenwohnung erhalten und bot mir 1982 an, ein oder zwei Monate dort zu wohnen. Er hatte sich bei seiner Freundin eingerichtet. Aus zwei Monaten wurden 10 Jahre.

Ich residierte über der Synagoge. Die befand sich in den ersten beiden Stockwerken. Heute lebt in meiner einstigen Wohnung der Rabbi von Leipzig. Einmal, cirka vor vier Jahren, stand das Gittertor offen und es zog mich magnetisch an. Plötzlich stand ich vor meiner ehemaligen Wohnungstür. Zögerte noch. Und läutete. Eine junge Frau öffnete mir und ich durfte mir meine damalige Wohnung anschauen.

Die Leipziger Brodyer Synagoge in der Keilstraße 4, Foto: Wikipedia, user:Nkunin

Die Leipziger Brodyer Synagoge in der Keilstraße 4, Foto: Wikipedia, user:Nkunin

 

Ich kam in mein „altes Leben“ zurück und war eine Woche lang wie im Rausch.

Ungefähr 1984: Um die Mittagszeit stieg ich die nicht gebohnerten Holzstufen herunter zu meinem Briefkasten. Ich vernahm die Gesänge aus dem Sakralraum. Es siegte die Neugier. Ich stahl mich geräuschlos in die Synagoge, setzte mich in die rechte Reihe und plötzlich drehten sie sich um. Erst ein paar Männer, dann alle. Stille. Ein knorriger älterer Herr flüsterte einem Vierzehnjährigen etwas zu und der stapfte zu mir mit einem Käppi in der Hand und reichte es mir wortlos. Nun war ich recht unter ihnen – mit Kippa.

Der Gottesdienst dauerte lange. Immer wieder Gesänge und dann stieß einer der Männer in ein Horn. Die Posaune von Jericho!, dachte ich. Dann formierte sich ein Zug und setzte sich durch den Kirchenraum in Bewegung. Wieder Gesänge und Reden, die ich nicht verstand. Ich war in ein Initiationsritual geraten und saß schon weit über eine Stunde unter ihnen. Meine Wohnung stand offen. Nun, wer außer Freunden sollte sich schon zu mir verirren? Zudem hatte ich bemerkt, dass vor mir nur Frauen saßen. Ich harrte noch aus, auf das Ende wartend, schlich mich dann aber davon, so geräuschlos, wie ich gekommen war, verwundert und irgendwie verzaubert. Schließlich kannte ich die Messrituale der Katholiken, denn als Ministrant huschte ich oft über den Altar.

Ich lernte sie noch kennen, die beiden alten Herren, Herrn Gollub (der verstarb Ende der 80er) und Herrn Aron Adlerstein. Sie grüßten freundlich, obwohl ich selten und unregelmäßig Miete zahlte. Dafür läutete ich regelmäßig, wenn sie ihre Fenster offenstehen ließen: "Wenn Ihnen da jemand die Goldkelche rausklaut!"

Einmal, ich wollte gerade zu einem Auftritt, bemerkte ich, dass ich keine müde DDR-Mark flüssig hatte. Die Sparkasse hatte Mittagspause und danach wäre der Zug weg gewesen. Mir fiel Herr Adlerstein ein. Er hatte sein Büro um die Ecke. Er schaute mir in die Augen, lächelte und drückte mir`n Fuffi in die Hand: Daß de dir nochn Bier leisten kannst!

Zwei Tage später läutete ich unangekündigt und brachte den Schein zurück. Sie saßen alle beieinander, der hagere Adlerstein mit seinem staubtrockenem Humor (den ich sehr mochte) und ein paar ganz junge Jidds und eine Dame schenkte mir Kaffee ein. Um mich herum Stapel von Büchern - vor allem sind mir die schönen Insel-Ausgaben aufgefallen. Ja, sie sammelten die Neuausgaben jüdischer Autoren und als ich zwischen ihnen saß, bemerkte ich, wie viele Bücher das waren.

"Ist Ihnen das schon mal aufgefallen?"

"Was?"

"Da stehen Frauen auf der Straße..."

"Ja, die stehn einfach so rum..."

"Haben Sie auch schon gesehen?"

"Die sehe ich jeden Tag."

"Was die da so machen, die Frauen."

"Sieht eigentlich aus, als ob die da gar nichts machen."

"Ja, vielleicht machen die gar nichts..."

Wir wohnten saßen sozusagen auf dem Strich von Leipzig. Er deutete es vornehm an, ohne die Sache zu präzisieren.

Nach der Wende zog ich aus, ließ mir bei dem Gemeindevorsteher Aron Adlerstein aber noch einen Termin geben. Ich saß rechts von ihm und er hatte nicht viel Zeit, ließ mich zwei Sätze reden und schaute dann einem links sitzenden Jüngling ins Gemeindebuch, der erklärte ihm irgendwelche Vorgänge, während ich mir das Mobiliar, das inzwischen ausgetauscht war, anschaute. Anstatt der dunklen Holzmöbel, der hohen schweren Schränke, welche diesen Duft verströmten, den ich noch in der Nase hatte von meinem ersten Besuch, standen weiße Büroregale. Als ich ihn darauf ansprach, entgegnete er schlagfertigst: "So siehts bei Juden halt aus!" und drehte seinen Kopf in die andere Richtung.

Ich hatte inzwischen erfahren, dass dieses Haus in der Keilstraße 4 nicht nur jüdischer Besitz war, sondern als exterritoriales Gebiet galt. Deswegen drehten die Spitzel ab! Deswegen hatte ich hier meine Ruhe! Meine Liedprogramme ab "Das utopische Festival" entstanden hier. Irgendwie fühlte ich mich sicher wie in Abrahams Schoß. Das wollte ich ihm erklären. Ich bin mir sicher, er hat das auch verstanden, aber es war nicht seine Art, es direkt zu zeigen.

Ich bedankte mich bei ihm "für 10 Jahre jüdisches Exil".

"Kannst wieder einziehen, aber, ach ...“, winkte er ab. Es kamen andere Zeiten und und er hatte andere Sorgen.

Damit war die Audienz beendet.

Nicht ganz. Natürlich wünschte er mir alles Gute. Natürlich gab's noch ein paar Sätze Smalltalk. Aber was gesagt werden musste, war gesagt.

Das mit dem exterritorialen Gebiet war sicher nur eine Anekdote. Wo ich die gehört hatte? Ich weiß es nicht mehr. Die aber habe ich jetzt verwendet als Grundidee für meinen Roman „Das Bandoneon des Kulturministers“. Er spielt hauptsächlich in diesem Haus.

Einen Herrn Adlerstein gibt es im Roman natürlich nicht, aber einen Tewel Honigman und viele Geschichten um das Waldstraßenviertel. Von vorgestern und heute.

 

Keilstraße 4, die oberen Fenster links und rechts der Dachrinne gehörten zu meiner Wohnung. Quelle Wikipedia:Freddo213

Keilstraße 4, die oberen Fenster links und rechts der Dachrinne gehörten zu meiner Wohnung. Quelle Wikipedia: Freddo213

 

 

 

 

Unscheinbare Fassade und prächtiger Innenraum

 

Seit ich ein junges Mädchen war, fühlte ich mich magisch angezogen vom Judentum, der jüdischen Geschichte und der jüdischen Kultur.

Denn es sind meine Wurzeln, von meiner jüdischen Grossmutter Amalie, der Mutter meiner Mutter.

Sie stammt aus Oberschlesien nahe Kattowice und lebte seit den 20-iger Jahren in Leipzig, heiratete einen arischen Mann, was ihr später das Leben rettete, da Sie im Februar 1945 "nur" in das KZ Theresienstadt deportiert wurde und überlebte, statt schon viel früher in ein Vernichtungslager wie Auschwitz gebracht wurde.

Ihre 3 Kinder versteckte Sie bei Bekannten in Leipzig.

Bei uns zu Hause wurde nur wenig darüber gesprochen, meine Mutter, im Krieg als Kind versteckt, war stark traumatisiert und schwieg.

Die Last des Schweigens nennt man das und die spürte ich meine ganze Kindheit und Jugend lang deutlich.

Ich suchte mir einen eigenen Weg mit dem wichtigen Thema meiner Herkunft.

Ich erinnere mich, das ich kurz vor dem Tod meiner Großmutter 1974, da war ich 14, mit ihr über ihre Zeit in Theresiestadt sprach, wo Sie in der Wäscherei schwere Arbeit verrichten musste. Im August 1945 kam Sie zu Fuss wieder nach Leipzig zurück.

Ich erinnere mich auch daran , das an einem Nachmittag , als ich meine Oma besuchte, der Film "Nackt unter Wölfen" im Fernsehen lief, wo ein kleiner Junge im Lager in Buchenwald von einigen Häftlingen versteckt wurde und meine Großmutter anfing bitterlich zu weinen.

 

Mit 17 Jahren, das war 1977, las ich zufällig irgendwo, das es in der Israelitischen Religionsgemeinschaft Leipzig eine Führung durch die Räume gab und so kam ich das erste Mal in das Gebäude der Keilstrasse 4 in der Innenstadt von Leipzig.

Damals war das Haus unauffällig von außen, ein schlichtes Altbauhaus.

Später wurde es schön renoviert.

Damals aber wusste fast niemand, das darin ein wunderschön gestalteter Synagogenraum war, mit einem Unter - und einem offenen Obergeschoss. Mit einem blauen Thoraraum und einer wunderschön bemalten Decke ! Ich war sehr erstaunt und überrascht , als ich den prächtigen Raum das erste Mal sah und etwas über die Geschichte der jüdischen Gemeinde erfuhr! Ich glaube, es war Herr Gollub der uns, einer kleinen Gruppe, damals alles erklärte. Wir hatten viele Fragen.

Ich bin dann danach, einige Jahre lang zwischen 1977 und 1988 (bis ich aus Leipzig wegzog) zu mehreren Schabbatt Gottesdiensten am Freitagabend nach Sonnenuntergang gegangen und fand es immer sehr berührend und eindrucksvoll mit den anderen Frauen zusammenzusitzen und den Männern in der Synagoge zuzuschauen und den langen hebräischen Gesängen und Lesungen aus der Thora zuzuhören.

Einige Jahre später recherchierte ich dann in Leipzig genau die ganze Geschichte meiner jüdischen Familie und fand viele Unterlagen.

 

Wenn ich aber damals gewusst hätte, das mein Jugendfreund Dieter 1982 in die Dachwohnung direkt über der Synagoge gezogen war, hätte ich gern bei ihm geklingelt und mit ihm einen Tee getrunken …

 

Ines Meister Leipzig/Freiburg

 

 

Ja, liebe Ines, das haben wir nun inzwischen nachgeholt!

Und die Geschichten, welche du mir zu unseren Begegnungen erzählt hattest, haben mich sehr berührt.

Dieter

 

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