Website der Leipziger Liederszene

Ehemalige Schüler
über 

Werner Bernreuther





Ab Mitte der 80er Jahre gab es einen von der Zentralkommission für Unterhaltungskunst, Sonderabteilung Lied und Chanson, organisierten Sonderkurs für Liedermacher (die sogenannte "Liedermacherhochschule der DDR").
Werner Bernreuther war im "Zentralkomitee der UK", wenn wir es spaßhaft so nennen wollen, zuständig für Weiterbildung und er nahm das ernst. Er organisierte die DDR-offenen Chansontage im Kloster Michaelsstein (später in Langeln) und zwar so, dass sie auch nach der Dauerbespitzelung von Major Kolbe noch stattfinden konnten. Und er entwarf den Sonderkurs, der zwei Jahre ging. Ziel war es, am Ende den begehrten Berufsausweis zu bekommen.
Frank Viehweg war einer, der daran teilgenommen hatte.
Hier sein Statement:



FRANK VIEHWEG

Frank Vieweg
Frank Viehweg, 1989, Unterwegs
Foto:  Gabriele Senft


Vor vollen Schüsseln muß ich Hungers sterben


Lieber Werner!

An viele Begegnungen erinnere ich mich sehr gern, z.B. in der Französischen Straße in Berlin und bei den Chansontagen im Kloster Michaelstein. Die wichtigsten für mich aber gab es beim Lehrgang für die jungen Barden in den 80er Jahren - ich war einer von ihnen. Mit der Kraft des „Komitees für Unterhaltungskunst“ waren für unseren kleinen Kreis Veranstaltungen theoretischer und praktischer Natur möglich geworden, die mich damals vielfach beeindruckt und in der Folgezeit begleitet haben.

Einmal rekonstruiertest Du den „Dichterwettbewerb zu Blois“, den 500 Jahre zuvor François Villon gewonnen hatte. Mit der Vorgabe der ersten Zeile, in drei deutschen Nachdichtungsvarianten, hast Du uns ins Rennen geschickt. Ich erinnere mich nicht mehr an die Preisverleihung, oder wer den Sieg davongetragen hat. Mein Ergebnis aber war dieses:

Frank Vieweg_Foto: Gabriele Senft
Foto: Gabriele Senft


VOR DER ERÖFFNUNG EINES BANKETTS


Vor vollen Schüsseln muß ich Hungers sterben

Da vorn der Redner spricht und spricht und spricht

Salate fangen an, sich zu verfärben

Ich könnte essen, doch ich esse nicht


Ich habe es gelernt, mich zu benehmen

Ich seh, was daran gut ist, wirklich nicht

Es fällt mir langsam schwer, mich zu bezähmen

Der Redner aber spricht und spricht und spricht


Mein Magen dreht sich um und um und wieder

Ein neues Blatt, der Redner spricht und spricht

Ach, Reden sind genauso schlecht wie Lieder

Ich könnte essen, doch ich esse nicht


Es hört nicht auf! Mein Gott, man muß doch essen

Das müssen alle! Und ein Redner nicht

Für alles ist die Zeit genau bemessen

Der Redner aber spricht und spricht und spricht


Die Übelkeit ist nicht mehr zu ertragen

Wer schiebt dem Kerl ein Weißbrot ins Gesicht

Um ihm dann bei dem kleinsten Mucks zu sagen

Mit vollem Mund, Genosse, spricht man nicht


Ich bin es nicht. Ich werde Hungers sterben

Vor vollen Schüsseln. Ich berühr sie nicht

Und mein Gesicht beginnt sich zu verfärben

Der Redner aber spricht und spricht und spricht ...


Frank Viehweg © 1986

Frank Vieweg, Foto: Hans-Jürgen Horn

Foto: Hans-Jürgen Horn


Ein wenig später konnte ich Dir zwei Strophen in Form und Versmaß des François Villon mit den beiden anderen deutschen Zeilen nachreichen:


BEIM VERSUCH, EIN GEDICHT ZU SCHREIBEN


Ich sterbe dürstend an der vollen Quelle

Die Worte sprudeln und sind wieder fort

Ich setze neue an die alte Stelle

Und sehe, sie stehn nicht am rechten Ort

Was ich auch wähl, es ist das falsche Wort

Und das Gedicht, das ich doch schreiben muß

Hat keinen Anfang und hat keinen Schluß

Was laß ich mich auf solche Sachen ein

Die mir nichts weiter bringen als Verdruß

Ich bin verrückt! - Ich muß ein Dichter sein!


ERKLÄRUNG EINER UNTAUGLICHEN ZEILE


Ich sterb verdurstend an des Brunnens Rande

Das klingt absurd, und soll es wohl auch sein

Doch ungenau, es ist fast eine Schande

Ist jene Zeile, so wie dieser Reim

Wie allzu oft, so täuscht auch hier der Schein

Man denkt, der Kerl kommt nicht von selber drauf

Man ist verstimmt und möchte schreien: Sauf!

So ist es nicht. Denn wie die Sache liegt

Klärt sich das scheinbar Paradoxe auf:

Der Brunnen ist seit einem Jahr versiegt.


Frank Viehweg © 1986

fotos/frank_viehweg_liedermacherhochschule_berufsausweis

Zulassung als Berufsmusiker


Dies zur Erinnerung für Dich, lieber Werner, und vielleicht zur Freude der Besucher dieser Website!

Herzliche Grüße durch das Netz!

Frank

Zwei Nachbemerkungen:

1.

Frank ist einer jener Liedermacher aus der abgewickelten DDR, die noch regelmäßig auftreten und CDs produzieren. Derzeit ist wieder eine in Arbeit. Sie sei schon jetzt empfohlen.

Ebenfalls empfohlen sind seine Nachdichtungen des tschechischen Kollegen NOHAVICA!

2.

Müssten hier alle stehen, die das große Glück hatten, an diesem Lehrgang teilgenommen zu haben.

Wir warten und sind geduldig.

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