Der
Bernburger Piano
– Flug
Ich
erzähl dir hier mal eine ziemlich unglaubliche Geschichte. Sie
trug
sich am 5. Dezember 1984 zu.
Wir, das Lied-Theater „schmidt oder so“, Dietmar
“Didi“ Voigt und Hubertus Schmidt,
sollten im Jugendklubhaus von Bernburg unsere Inszenierung der
„Galgenlieder“ von
Christian Morgenstern zur Aufführung bringen.
Die riesige Bühne war aber zur Zeit unseres Ankommens bereits
vom Equipment mehrerer
Bands belegt. Wir dachten alles durch und kamen zu dem Schluss, dass
wir selbst
mit unserem Vorhang, der zur Neutralisation immer hinter uns hing,
nicht mal
ein annähernd befriedigendes Bühnenbild zaubern
können.
(Wegen der „Neutralisation“ musst du Folgendes
wissen. Zur DDR-Zeit war der Bühnenhintergrund
in Klubhäusern meist bepflastert mit Blümchen oder
Losungen oder Honecker-Bildern.
Alles das wollte man ja nicht hinter sich wissen. Und´s
Publikum glotzt immer
drauf… Also kam der Vorhang hinten hin, auf ne
Wäscheleine, weißt du.)
Wir redeten mit dem Veranstalter, sagten ihm, dass wir so nicht
arbeiten können
und wollen. Und dann die ganzen Bands, hier ist wohl Tanz oder
was… Ganz zu
schweigen von der Erwartungshaltung des Publikums, das sich aufs Tanzen
freut.
„Da können wir die Galgenlieder aber voll
vergessen“, sagten wir ihm.
Der Typ meinte: „Ich dachte, ihr könnt´s
hier vorm Tanz noch abdrücken!“
Aber drücken wollten wir nicht! Daraufhin wurde das Geld
ausgezahlt und wir
fingen an, einzupacken. (Na ja, ausgepackt war ja noch nicht
viel…)
Mit dem Einpacken ging alles los: Ein nickelbebrillter
Jüngling mit einem Band
Morgensterns „Galgenlieder“ unterm Arm sprach uns
an, wie schade das nun sei,
und er ist mit einer ganzen Herde von Landwirtschafts-Studenten des
Ortes hier (heute:
Hochschule Anhalt in Bernburg-Strenzfeld). Na ja, und die sind alle
Morgenstern-Fans, und wollten unbedingt das Programm erleben und so
weiter. Und
dann kam die Frage, mit der wir nicht gerechnet hatten,
nämlich ob wir nicht
bei ihnen im Wohnheim, im kleinen Raum, ganz intim, das Programm
spielen
könnten. Und überhaupt nur vor Morgenstern-Fans. Ja,
sagten wir alle beide,
aber ein Klavier brauchen wir dazu. Du weißt ja, dass es ohne
nun mal gar nicht
geht! Seine Erwiderung war dazu angetan, uns langsam glauben zu lassen,
wir seien
ins Galgenlieder-Land geraten, denn er meinte, das sei ja nun mal gar
kein Problem.
Er habe schon mit dem Veranstalter gesprochen, wir könnten das
Klavier
mitnehmen, und dann wäre ja alles gut. Sprachlos vor Staunen
stotterten wir, wie
sollen wir das Ding denn dorthin bringen. Es
war ein uraltes riesiges Ungetüm, nicht mehr
so ganz frisch im Klang und sauschwer.
Ach, sagte der, uns mit seinen Augen hinter der Nickelbrille flehend
ansehend,
Morgenstern Fans tragen das Ding einfach ins Wohnheim, hinterher
natürlich auch
zurück.
Ach, weißt du, damit hatte der gewonnen, wir sagten zu und
wurden von einer vor
Freude johlenden Horde von Studenten umringt. Jeder von ihnen schnappte
sich einen
Teil von unserem ziemlich reichhaltigen Gepäck und schleppte
es zum Auto. In
wenigen Minuten war der Moskwitsch vollgestopft. Ich sage dir, so
unordentlich hat
das noch nie ausgesehen. Es war ja nichts verpackt, alles lag nur lose
im Auto,
auf dem Wagenboden Didis Schlips fürs Programm. Ein anderes
Kommando dieser
Kohorte war unterdessen mit dem Piano schon losgezogen. Einer von ihnen
quetschte
sich noch irgendwie zu uns auf die Rückbank. Der musste uns
den Weg zum
Wohnheim zeigen.
Nach wenigen Minuten langsamer Fahrt durch das dezemberdunkle Bernburg
trafen
wir auf einen unheimlichen Zug durch die fast schwarz wirkenden, sonst
grauen
Gassen: Eine Schar Freaks, ausgerüstet mit Taschenlampen
bewegte sich in
langsamem Schlenderschritt vorwärts. Und in der Mitte des
Pulks schlingerte ein
Klavier, etwas unsicher wie ein zu schwerer Kahn bei Wellengang,
über die uralten
Gehwegplatten Bernburgs.
Einer von den Trägern rief fröhlich: „Ein
Wiesel saß auf einem Kiesel“. Ein
nächster rief: „Inmitten Bachgeriesel.“ Da
lachten alle enthusiastisch auf. Ein
nächster Rezitator rief:“ Wißt ihr,
weshalb?“ Ein weiterer antwortete schreiend:
„Das raffinierte Tier tats um des Reimes willen.“
Da fehlte der Hinweis, dass das Mondkalb die Lösung verriet.
Aber auch so war
die Szenerie einzigartig, und schade war nur, dass in dieser Kleinstadt
um diese
Zeit niemand mehr unterwegs war. Die meisten Bernburger bekamen nichts
von allem
mit…
Dann hörten wir noch ein Zitat: “Ein Glockenton
fliegt durch die Nacht“. Ja,
dachte ich, ob es nun Bim, Bam oder Bum ist, ist völlig egal,
Recht hat er, aber
hier fliegt gar ein Klavier durch die Nacht. Wir fuhren weiter, und
hinter uns verwehte
noch ein Seufzer, der auf nächtlichem Eise Schlittschuh
lief… Morgenstern hätte
seine Freude an allem gehabt. Aber der war zu diesem Zeitpunkt schon 70
Jahre
tot.
Etwas eher als das Musikinstrument kamen wir mit dem Auto am Wohnheim
an,
trugen alles rein, was wir brauchten, hatten ja noch einen Helfer,
unseren Wegweiser.
Im Wohnheim sprach sich schnell herum, was los ist, und wesentlich mehr
Studenten
als im Klubhaus anzutreffen waren, wollten in den kleinen Raum, der mit
uns,
unseren Requisiten und vor allem mit dem Klavier und seinen
Trägern eigentlich
schon voll war.
Was soll ich dir sagen, irgendwann fingen wir mit dem Programm an.
Neben meinem
rechten Knie saß gleich einer, aber der war wirklich noch am
weitesten von mir
entfernt. Der hatte diese gelbliche 1981er Ausgabe von Kiepenheuer aufm
Knie, du
wirst dich an sie erinnern!
Na ja, es war einfach unheimlich voll. Die Fans blätterten wie
wild in ihren
Morgenstern-Ausgaben. Schließlich gaben sie es auf: Mitlesen
konnte man nicht,
wir spielen ja die Lieder nicht in der Reihenfolge des Buches, musst du
wissen.
Ein so tolles und gebildetes Publikum! Wenn
wir einen Texthänger hatten, konnten sie beweisen, dass sie
alles auswendig kennen.
Und das war tatsächlich so. Und damit halfen sie uns bei
Hängern immer wieder aus
der Patsche. Und das war nicht so leise wie ein Souffleur das tut!
Nein, jeder
wollte ja zeigen, was er kann, also wurde gebrüllt. Wir waren
höflich und haben
immer mehr Text vergessen. Die Aufführung, die normalerweise
eine Stunde
dauert, ging etwa zwei Stunden, denn der Beifall dauerte immer endlos,
und wir hatten
rund 40 Nummern zu spielen!
Nach drei Zugaben zelebrierte Didi dann noch „Das
Butterbrotpapier“, und meine
schlimmsten Befürchtungen wurden übertroffen. Didi
kann nämlich Nummern sehr
schön dehnen. Da wird gehustet, geschnaubt,
geräuspert, kunstpausiert, ins
Publikum gegrinst, ein Stäubchen von der Hose
gepflückt und all so was, und so dauerte
allein das „Butterbrotpapier“ etwa
fünfundvierzig Minuten.
Ich wollte da raus! Ich schwitzte wie noch nie. Da mussten wir aber
nochmal „Galgenberg“
vom Anfang spielen. Das ist das mit dem „Blödem
Volke unverständlich“, weißt
du. Damit muss das Ganze ja anfangen. Dann kam noch das
„Bundeslied der Galgenbrüder“
zum zweiten Mal, und Didi, der auch schon schlotterte vor Hitze, bat
mich, allein
noch was zu tun. Ich spielte, zum zweiten Mal, „Galgenbruders
Lied an Sophie,
die Henkersmaid“. Und dann war endlich Sense!
Aber an eines erinnere ich mich ganz sicher, und das kannst du mir
glauben:
Irgendwann sind wir wieder, aber erst nach dem Ende des 5. Dezember
1984, in
Leipzig eingetroffen!
Bernburg ist nicht weit…