Die unsichtbare Mauer

oder

Ein Lied für den Zöllner

 

Ein Reise-Essay

Die Opposition von Belarus!

 

In Leipzig steige ich in einen Zug, der in Bitterfeld drei Minuten zum Umsteigen bietet. Kommt er drei Minuten zu spät, schießt es mir durchs Gehirn, ist das Flugzeug weg. Ich beschwöre den Schaffner, er solle telefonieren... Er lächelt milde. Den haben wir immer geschafft. Ich schien nicht zu wissen, auf was ich mich eingelassen habe. Der Zug, in dem ich sitze, kommt aus Budapest. Ein Ungar in meinem Abteil fragt über Anschlüsse der Berliner S-Bahn. Ich sage ihm, daß ich mich nicht auskenne - im Westteil der Stadt. Eine Minute vor Plan fährt der Zug in Bitterfeld ein. Der Schaffner sieht mich aussteigen und lächelt milde...

Bis Schönefeld schaue ich beruhigt auf die Landschaft. In Wittenberg werden neue Gleise und Brücken über die Elbarme errichtet. Millionenprojekte. Blühende Landschaften. Aus Beton. Kurz vor dem Aussteigen links Industriegebiete - einst unbebaute Wiesen, da an der Grenze zu Westberlin. Von Ferne - damals - die Hochhäuser jenseits des "antifaschistischen Schutzwalls". Die Mauer wurde gebaut, '61, mit tschechischem Beton, den die Tschechen von Deutschland/West kauften. Ein Ringkauf. Und die Skins, Neo-Faschisten der Neuzeit, denke ich, rekrutieren sich zumeist aus Jugendlichen der Ex-DDR. Wen hatte die Mauer vor was beschützt?

Seit einigen Tagen hat Berlin wieder eine Mauer. Aus Schokolade. Eine Mauer aus Beton wurde errichtet in Usti an der Elbe: zwischen Tschechen und Roma. In einem Wohngebiet. Die Roma seien schmutzig und laut, sagten die Tschechen. Und bauten.

Auf dem Flugplatz frage ich die Mitarbeiterin von Belavia, ob wir mit einer Propellermaschine fliegen. Oder mit einem Doppeldecker. Mir ist nicht ganz wohl in meiner Haut. Über die Sicherheitsstandarts der ex-sowjetischen Fluglinien habe ich mehrfach gelesen. Nicht gutes. Sie lächelt: Das Flugzeug habe Düsen. Drüsen?, frage ich. Von mir aus Drüsen, sagt sie. Start. Es geht steil aufwärts. Wolken. Unter mir Polen. Poznan, Lublin. Dort lernte ich Slawa kennen. Dort traf ich ihn wieder. Keiner meiner Briefe, die ich ihm schrieb, ist angekommen. Zwischen Deutschland und Belarus liegt nur Polen. Jetzt unter mir. Ich lese die Süddeutsche Zeitung. Der ständige Parteienstreit und der ständige innerparteiliche Streit. Ich überlege: Ist es vorstellbar, daß der Bundespräsident den Kanzler einbuchten läßt, weil er sein politischer Gegner ist? Und die Eierwerfer von Halle? Demonstranten, die den Kanzler bewarfen. Sicherheitskräfte hielten den Geschädigten zurück, zuzuschlagen. Nicht die Täter jenseits der Absperrung. Die warfen weiter. Die Lektion für den Regierungschef: Selbstgefälligkeit ist fehl am Platze. Ostdeutschland ist ein Haufen ungelöster Probleme.

Victor Shalkevich. Bardentreffen in Grodno

Als sich die Nase des Flugzeugs neigt, sind Strukturen von Dörfern erkennbar. Rechtwinklig: Straßen, Siedlungen, selbst Seen. Wiesen. Landung. Die Betonbahn. Ich stiere aus dem Fenster der kaum besetzen Maschine. Auf die holprige Landebahn. Sanftes Aufsetzen. Do Swidanja sage ich auf Russisch. Umsteigen in einen Bus. Er knattert los. Der Fahrer schaltet. Es kracht. Eine halbe Minute lang. Dann ist der Gang drin. Als er versucht, den dritten einzulegen, dasselbe. Zum Glück hatte das Flugzeug kein Getriebe, denke ich. Oder hatte es doch?

Minsk - das Tor zum Kommunismus. Paradiese des Ostens. Achtspurige Alleen. Von der Mauer bis Kamtschatka - ein grenzenloses Reich. Ineinander verzahnt, wirtschaftlich, ideologisch, rechtlich. Wie die Europäische Union. Der Lenin-Prospekt heißt heute Prospekt Franzyska Skaryna.

Ales Kamocki. Bardentreffen in Grodno

Keine Stalinallee mehr. Wozu? Es ist der architektonisch verwirklichte Zentralismus. Kein Schlupfwinkel, kein Hinterhof. Kein Hintergedanke. Keine Biegung. Kein Geheimnis. Das Zentrum: ein Gebäude mit wuchtigen Säulen. Stützen des Staates. Die Grundlage unserer Macht sind unsre Organe, hatte Walter Ulbricht gesagt. Die Organe des Mißtrauens. Der Konspiration. Gleich neben Minsk: Dzierzynsk. Als würfe es lange Schatten in die Zukunft, als stünde der Geheimdienstler gleich dreifach wieder auf nach dem Zusammenbruch. Als ließe sich ein System ohne ihn nicht gründen. Hier. Ein Dracula des Ostens. Nachts auf der Suche nach dem Blut der Intimität. Der letzte Sohn Draculas - Ceausescu. Der letzte Sohn Dzierzynskis?

Der letzte deutsche Staatsratsvorsitzende, der den Personenkult offen pflegte, war Walter Ulbricht. Von ihm gab es Briefmarken. Nach ihm benannte man Betriebe. Zu Lebenszeiten. Vor ihm: Hitler. Auch Briefmarken mit seinem Gefräß. Als Kind hatte ich sie gesammelt: Ulbrichtmarken und Hitlermarken. Personenkult ohne Grenzen.

In der Zentralpost von Minsk fragt Slawa nach philatelistischen Neuigkeiten mit dem Konterfei des Präsidenten. Haben wir nicht mehr, die Beamtin. Wenigsten den Papst, bitte ich. In Polen gibt es den Papst auf jeder Post! Auch nicht. Und Lenín? Kopfschütteln. Stalin? Die Leute in der Warteschlange lachen. Darunter ein Offizier und ein Polizist.

Polnische Papstbriefmarke

In der Zentralbuchhandlung frage ich nach einem belarussisch-deutschem Wörterbuch. Haben wir nicht, die Verkäuferin. Und ein russisch-deutsches. Selbstverständlich. Sind wir in Rußland oder in Belarus? Die Verkäuferin versteht mich nicht. Mehr. Und die Bibel? Die weißrussische Bibel! Sie reicht mir die russische Ausgabe des Kommunistischen Manifestes.

Haben wir nicht, die Schlüsselbotschaft des sozialistischen Handels. Der verteilte nicht Reichtum, sondern Armut. Fast ist dieser Typus Verkäuferin ausgestorben auf dem Territorium der DDR, zehn Jahre nach dem Fall der Mauer. Seitdem es alles "gibt". Seitdem man es hergeschleppt hatte von jenseits der Mauer. Heute bis nach Minsk. Für den doppelten Preis. Nur die Persona existiert noch. Anstatt mit verschränktem Arm hinterm Ladentisch zu stehen - ein verkrampftes Lächeln. Anstatt abweisender Blicke - ein unpassender Lippenstift. Anstatt den Kunden warten zu lassen, bis sie gewillt ist, sich seinem Ansinnen zu widmen - stürzt sie auf ihn ein. Kam ich nach Minsk, meine Vergangenheit zu verstehen? In ein Museum. Ein lebendiges Skanzen? Die Zentral-Bibliothek. Die Zentrale Zahnpoliklinik. Der Macht-Zentrale darf ich mich nur auf 50 Meter nähern. Hätte mich Slawa nicht hingewiesen auf den Inhalt der Schilder vor dem Präsidentenpalast, wäre ich hingelaufen, vorbei am wachhabenden Posten.

Wir setzen uns ins Theatercafe schräg gegenüber. Auch auf den Panzer gegenüber dem Palast hatte mich Slawa aufmerksam gemacht. Und auf das Haus der Offiziere. Ein Protzbau. In Leipzig gibt es ein Haus des Buches. In Minsk gab es ein Haus der Schriftsteller. Wenn auch vergleichweise klein. Es ist geschlossen worden. Dichter, immer auch Gewissen einer Nation, scheinen nicht staatstragend für dieses System, wo ein Brot dreißig Pfennige kostet und die Betriebskosten für eine Wohnung monatlich eine Mark. Monatslohn 5 Millionen Rubel. Zehn Dollar. Offiziere haben etwas mehr. Strafe für Demonstranten: 250 Millionen. Ein Zehntel des Lebensarbeitslohnes.

Die Bardame füllt ein Aluminiumgefäß, woran ein Holzgriff befestigt ist, mit Wasser und setzt es in einen Kasten mit heißem Sand. Sie gibt zwei Löffel Kaffee dazu.

- Es steht noch eine Revanche aus, meint Slawa. Nächstes Jahr komme ich, und zwar mit dem Panzer, der dort drüben steht.

Slawa grient übers ganze Gesicht. Er ereifert sich:

Aber vorher räume ich hier noch etwas auf. Das Offizierskasino, der Präsidentenpalast, ein paar Schuß... Peng.

Slawa haut auf den Tisch. Der Kaffee schwappt über.

Dann die Karl-Marx-Straße entlang Richtung Westen. Die Leninstraße runter. Rüber auf die Straße des Komsomol. Auf dem Weg rasiere ich das Dzierzynski-Denkmal ab, ballere auf die Säulen, rattatatam, des Allerheiligsten...

Er stößt mit mir an.

Du hörst es sicher in den Nachrichten. Ich befreie die politischen Gefangenen, und düse über den Skaryna-Prospekt zur Polnischen Grenze. Zeige meinen Paß.

Er haut mir auf die Schulter.

In Lublin, wo wir uns kennenlernten, ein Abstecher ins Theater NN. Die haben noch Schulden bei mir. Ubernachtung im Kloster an der Brama Grodzka.

- Du willst die Nönnchen beglücken, frage ich.

- Nein. Nur, dort parkt der Panzer sicher im Hof. Die Nönnchen beten für meine Ankunft in Leipzig. In Poznan schau ich bei Obserwator rein. Wir trinken Zubrowka auf "Ostry nawrót dekadencjii". Dann gehts durch Berlin mit bleifreiem Benzin. Nach Leipzig.

- Ich stelle dir schon mal einen Kasten Bier kalt. Aber laß mich nicht zu lange warten, sonst rosten die Kronkorken.

- Und dann wird geplündert, wie ihr geplündert habt. Vor 60 Jahren.

- In Sachsen ist nicht viel zu holen. Fahr weiter nach München.

- Wenn du mir zeigst, wo's langgeht.

- Immer gradeaus. Auf der Autobahn.

 

Nochmal Shalkevich

Slawa lacht. Aber fast kommt es mir vor, er meint es ernst. An einem Marktstand entdecke ich die Kassette eines russischen Liedermachers, der auf der Bühne erschossen wurde. Budjet graschdanskaja woina. Seitdem in Rußland vierzig Journalisten beseitigt wurden, ist die Presse zahm. Burgfrieden. Die kritischen belarussischen Zeitungen werden in Litauen gedruckt. Und eingeführt als geistige Konterbande. Dafür besitzt Radio Liberty eine Filiale in Minsk. Eine Etage über Mc Donald gegenüber dem Hauptbahnhof. Und in einem unscheinbaren Hof befindet sich das Büro eines Senders, der von Polen ausgestrahlt wird. In Belarus ist er inzwischen verboten. In jedem Zimmer, grient Slawa, drei Wanzen. Manchmal sechs. Doppelt hält besser.

Wir sitzen bei Slawa zu Hause und tanzen. Eine Männerrunde. Sowjetskoje Schampanskoje Brut für drei Mark die Flasche und kastenweise Wodka... Es ist vier Uhr. Es graut. Der Morgen. Vorwinterzeit. Ich stehe auf dem Balkon. Da geht er, rufe ich. Ich habe Lenin gesehen! Lenin auf dem Weg zur Arbeit. Während wir feiern. Während wir saufen, geht Lenin zur Arbeit. Nicht in den Kreml, sondern an die Drehmaschine des Traktorny Sawod. Die deutschen Sozialdemokraten haben ihm seinerzeit einen Aufenthalt in Zürich bezahlt. Die deutsche Regierung hat ihn nach Rußland eingeschleust und die Oktoberrevolution finanziert. Die Große Sozialistische Oktoberrevolution - ein Projekt des deutschen Außenministers. Dort geht er, Lenin, in einem Neubaugebiet von Minsk im Oktober des Jahres 1999. Er war arbeitslos. Man hatte ihm eine Umschulung angeboten. Hatten sie doch immer gesagt: Lenin ist unsterblich. Ich habe es gesehn.

Noch ne polnishe Papstbriefmarke

Als ich am Morgen geweckt werde, bin ich unausgeschlafen. Slawa hat ein Taxi bestellt. Es fährt mich zum Flughafen. Die Zöllner verlangen einen Paß für mein Musikinstrument, das ich mitführe. In einigen Minuten würde die Maschine starten. Ich stinke nach Zigaretten, Sekt und Wodka, packe mein Bandoneon aus und spiele den Zöllnern ein Lied vor. Swaboda szepca tobe slowo/ ty poninim wieric/ czorne ptach usze odlataje/ sautra ty budjesz swabodny... Als hätte ich das Instrument mitgebracht, den Zöllnern vorzuspielen. In den Flughafensälen verteilen sich die Töne. Die Zöllner geben sich Mühe, mir verstehen zu geben, ich dürfe einsteigen. Start. Es geht steil aufwärts. Wolken. Unter mir Polen. Lublin, Poznan. Slawa wird dort vorbeikommen. Der Kasten Bier wird kalt stehen.

Und in meinen Gedanken sehe ich einen Mann im Zentralny Djetski Park Eishockey spielen. Um ihn herum die Security. Seine Vertrauten. Und Freunde. Sie klatschen Beifall, wenn er den Puck ins Tor schiebt. Ins Tor ohne Tormann.